Geschichten die das Leben schreibt!

So hier werde ich ein paar Camino Geschichten ablegen. Menschen erzählen oft von ihrem Schicksal, was sie treibt, warum sie hier sind. Und ich mache am Ende des Weges eines Geschichte daraus. Und hier ist die erste.


KOMM LASS UNS LEBEN

Afra Sinninger schlich behutsam durch die Küche. Ihre Filzpantoffel machten knarrende Geräusche, und sie hielt inne um  zu verschnaufen. Fast schon hatte sie den Kühlschrank erreicht, der leise vor sich hin surrend in der Ecke stand, da streifte der Ärmel ihres Nachthemdes die leere Flasche auf der Spüle. Mit einem großen Scheppern landete sie auf dem Steinfußboden, und zersprang in tausend Stücke.

 

Erschrocken starrte die alte Frau auf den Schaden, den sie angerichtet hatte. Schon ging das Licht über ihr an. „Mensch Oma, was tust du hier in der Nacht?“ Luke ihr Enkel, stand ganz verschlafen  in der Tür. Afra lächelte verlegen. „Ach mein Junge, du weißt ja, ich kann nicht mehr so gut schlafen. Ich dachte, ich mache mir eine heiße Schokolade. Komm räum die Scherben weg, und du bekommst auch eine!“ Seufzend machte sich der Junge ans Werk. Oma Sinninger reichte ihm eine Tasse. Genießerisch schlürfend, setzte er sich neben sie. „Ach, Oma, deine Schokolade ist doch die Beste!“. Sie lächelte ihn an. „Weißt du, dass ich das früher mit meinem Vater auch getan habe? Wir saßen viele Nächte in der Küche, und tranken Schokolade. Das ist die schönste Erinnerung überhaupt, die ich habe an ihn“. Leise seufzend erhob sie sich. „Komm Luke, trink aus, du musst morgen früh raus!“

 

Als sie am nächsten Morgen vom Damenturnen nach Hause kam, traf sie Eva, ihre Schwiegertochter in der Küche an.“ Nanu, hast du heute frei?“ Neugierig sah sie die dunkelblonde Frau mit Pferdeschwanz an. Aus der Küche duftete es verführerisch nach saurer Leber mit Bratkartoffeln, einem Leibgericht von Afra. „Komm ich nehme dir die Tasche ab Oma!“. Olivia, ihre Enkeltochter stürmte ins Haus.  Und da kam auch schon Rolf ihr Sohn.

 

Während des Duschens versuchte sich Afra zu erinnern, ob heute ein besonderer Tag wäre. Aber sie kam zu keinem Schluss. Das alle hier zusammenkamen, und das am frühen Mittag, passierte normalerweise nur in den Ferien.

 

Gespannt, mit frisch geföhntem Haar und einem leichten Sommerkleid, setzte sie sich an den braunen Holztisch in der Küche. Dort saß auch schon ihr Sohn und zerpflückte seine Serviette. So hatte er früher immer ausgesehen, wenn er etwas ausgefressen hatte. Fragend sah Afra ihn an. „Was zum Teufel ist heute hier los?“ Rolf legte seine Hand auf ihre. „Warte noch kurz Mum, die Kinder kommen gleich“.

 

Luke und Olivia lümmelten sich auf ihre Stühle. Olivia grinste: „Was ist los, bekommen wir Nachwuchs?“ Rolf schüttelte den Kopf.  Er räusperte sich.“ Also es ist so – er schluckte. Ich habe eine super Stelle angeboten bekommen“. „Cool  murmelte Luke, bekommst du dann mehr Geld?“ „Hm ja, das auch.“ „Bekomme ich dann endlich dieses Super-Handy vom Katalog?“ Olivia blinzelte ihren Vater an.

 

Ihre Schwiegertochter machte ein Ende mit dem Gestammel ihres Mannes.  „ Wir ziehen weg“ verkündete sie, während sie den  Kartoffelbrei austeilte,  und jedem  eine Kelle davon auf den Teller klatschte.  Die Kinder sahen sie entrüstet an.

„Wohin?“ fragte Oma Sinninger knapp. Ihr schwante Böses. „Na ja, Rolf druckste verlegen herum, wir müssen nach Hamburg ziehen“.


Olivia schüttelte den Kopf, Ich gehe hier nicht weg. Hier sind meine Freunde!“ Auch Luke reagierte abweisend „. Ich bleibe hier, schließlich bin ich ja in drei Monaten achtzehn!“ Sein Gesicht verschloss sich, und er starrte auf seinen Teller. Oma Sinninger stand mit einem Ruck auf. „Und mich wollt ihr wohl ins Altenheim bringen, oder? Kein Bedarf, vielen Dank!“. Damit marschierte sie hoch erhobenen Hauptes zur Tür hinaus.

 

 

Sechs  Wochen später stand sie im Garten der Seniorenresidenz Heidegarten. Ihr Sohn hatte, trotz Protest, alles veranlasst. Sie durfte sogar die Möbel aus ihrem Zimmer mitnehmen. Nichts hatte ihren Sohn umstimmen können. Ohne mit der Wimper zu zucken hatte er ihr gesagt, dass das Haus verkauft werden sollte. Mit Tränen in den Augen erinnerte sie sich an das Gespräch.

 

Sie war froh, dass Heinrich ihr Mann das nicht mehr erlebte. Sein Heim, für das sie jahrelang  von der Hand in den Mund gelebt hatten, für das sie all die Opfer gebracht hatten, nie in Urlaub waren wie andere Familien. Stolz wie Oskar war er gewesen, als die erste Hypothek bezahlt war. Wie hatte er sich gefreut auf seine Rente und mit ihr geplant, was sie sich alles ansehen wollten, wenn er zu Hause war- Und dann, kurz vor seinem Ausstieg aus dem Arbeitsleben war es passiert. Herzinfarkt.! Keiner konnte ihm mehr helfen. Einfach aus. Ihr Sohn Rolf war dann mit seiner Familie hier eingezogen und sie hatte ihm das Haus überschrieben. Er hatte doch versprochen, dass sie immer  im Haus wohnen bleiben könne.

 

„Na komm Mama ich bring dich rein!“ .Betont munter nahm Rolf sie beim Arm und bugsierte sie durch ein großes Tor. „Jetzt schau nicht so, du wirst sehen es wird dir gefallen!“. „Schau dich doch um, lauter alte Menschen, flüsterte sie. Und wie es hier riecht“!.

 

Eine dunkelhaarige Frau in einem strengen Kostüm eilte ihnen entgegen. „Ach Herr Sinninger, schön das sie da sind.  Wenn sie mir folgen, zeige ich ihnen das Zimmer ihrer Mutter. Es wird ihr bestimmt gefallen.“ Afra verzog das Gesicht. „Sie können ruhig mit mir persönlich sprechen, ich bin noch nicht schwachsinnig.“ Zornig schaute sie der Frau ins Gesicht. „Na, na, herablassend tätschelte diese ihr die Hand, nicht aufregen Frau Sinninger, sie werden sich hier bestimmt schnell einleben“.

 

Das Zimmer war weiß getüncht, und über dem Bett hing ein Druck von Picasso. „Scheußlich“, urteilte Oma Sinninger und versuchte das Bild abzuhängen. Eine Frau im weißen Kittel kam ins Zimmer. „Was machen sie da?“, fragte sie, und stemmt die Hände in ihre Hüften. „Das ist einfach scheußlich, davon bekomme ich Albträume!“ maulte Oma Sinninger, und mühte sich weiter ab. „Hier ist ihr Abendessen“, sagte die Schwester, stellte das Tablett geräuschvoll auf den Nachttisch, und verschwand kopfschüttelnd.

 

Angewidert verzog die alte Frau das Gesicht. Unter der Haube auf dem Tablett befand sich undefinierbares. Sie setzte sich resigniert auf das Bett. Sie vermisste ihren Kater Henry ganz schrecklich. Normalerweise lag er jetzt auf ihrem Schoß, und ließ sich verwöhnen, während sie in ihrem Lieblingssessel saß und Nachrichten sah. Doch Tiere waren hier verboten.

 

 

 

 

Immer wieder fragte sie sich, warum Rolf ihr nicht eine kleine Wohnung gemietet hatte. Sie konnte sich gut noch selbst versorgen. Wie dieses Gemälde, genauso durcheinander war sie jetzt. Ihre Enkel, wie sehr sie sie jetzt schon vermisste. Das fröhliche Treiben im Haus. Tränen kullerten ihr über die Wangen und sie konnte nichts dagegen tun.

 

 

Leise klopfte es an die Tür. „Herein!“ – brachte sie zwischen zwei Schluchzern hervor.

Vor der Tür stand der Herr von gegenüber. Ein weißhaariger kleiner Mann mit Schnauzer.

„Gestatten, Gnädigste einzutreten?“ Sie sah auf. Was für eine Sprache!“ Was wollen sie?, fragte sie schroff.“ Lassen sie mich in Ruhe!“ Seine blauen Augen, die aussahen wie der Bodensee im Frühling, blinzelten ihr zu.“ Ich weiß, es ist schwer die ersten Tage hier. Darum wollte ich mich auch vorstellen. Mein Name ist Herbert Schutt, ich lebe schon 5 Jahre hier.“

 

Er ließ sich wie selbstverständlich im Sessel ihr gegenüber nieder. Holte aus seiner Jackentasche zwei Gläser und eine Flasche Piccolo. Langsam goss er ein und reichte ihr ein Glas.“ Hier, trinken sie, sie werden sehen, danach geht es ihnen besser“.. Er prostete ihr zu, und trank sein Glas in einem Zug aus. „Los, kommen sie schon, trinken sie!“. Gehorsam setzte sie das Glas an die Lippen und machte es ihm nach. „Na sehen sie, war doch nicht so schwer. Spielen sie Schach?“ „Mmh, ja schon, zögernd schaute Afra ihren Nachbarn an. „Aber lieber noch Rommee. Ich hatte da in unserer Nachbarschaft drei Damen mit denen ich jeden Mittwoch spielte.“

 

 

 Der Sekt hatte sie ein bisschen lockerer gemacht, und die Worte sprudelten aus ihr heraus. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu erzählen von ihrer Familie, dem Verrat den Rolf begangen hatte, und von ihrem schönen Haus, in dem nun bald andere Menschen wohnten. Herbert war ein guter Zuhörer und am Schluss hielt er sogar ihre Hand, als sie wieder in Tränen ausbrach. Zitternd stand Afra auf. „Ich glaube ich werde jetzt schlafen“. Es war ihr peinlich, einem Fremden ihren ganzen Kummer gebeichtet zu haben.“ Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich,  ich habe die ganze Zeit nur von mir geredet“.

 

Herbert lächelte. „.Liebste Afra, wir werden noch ganz viel Zeit haben, auch von mir zu reden.“ Leise schloss er die Tür hinter sich.

 

Die nächsten Tage waren für Afra wie ein Spießrutenlauf. Sie hasste es, Punkt zwölf zum Essen zu gehen, bei Menschen zu sitzen, die sie nicht kannte. Sie hatte nicht gewusst, dass Frauen in ihrem Alter noch so eifersüchtig waren, und wurde gleich mehrfach gewarnt, Herbert in Ruhe zu lassen. Ihr fehlten ihr Rommeeabend und die Turnstunden. Die Spaziergänge durch den Wald, und ihre Enkel. Meist saß sie im Garten etwas abseits, und las in einem der Bücher aus der Bibliothek - dem einzig Guten hier in diesem Haus. Ein Lichtblick waren die Gespräche mit Herbert. Er war früher der Direktor einer Bank gewesen, und strahlte auch heute noch diese lässige Eleganz aus, die sie schon immer gemocht hatte.


Die Bücherei des Hauses hatte einen schönen hellen Leseraum mit einer sehr bequemen Couch und bei Wetter wie heute – es regnete in Strömen, was dies ihr liebster Platz. Auf der Couch lag ein großer Bildband mit dem Titel „Der Weg nach Santiago“ Sie setzte ihre Lesebrille auf und starrte auf ein wunderschönes Bild das eine neblige Landschaft darstellte und eine eckige Kirche mit einem Storchennest auf dem Turm. Fasziniert blätterte sie durch den Bildband. Er war geschrieben von einem Mann der den Jakobsweg schon viele Male gegangen war.  Besonders berührt hatten sie folgende Zeilen:

 

 

·         Vor allem aber war der Camino in der ersten Woche eine stark körperliche Erfahrung, ein Kämpfen. Am Ende bin ich ... geflogen. Kilometer bedeuteten nichts mehr. Im Dunkeln bin ich aufgebrochen, durch die Nacht gewandert, das waren die schönsten Stunden des Tages. Nach dem Mittag ein kleines Schläfchen irgendwo am Weg, auf einer Wiese, bei einer Kirche, auf einer Mauer ... Trinken, essen, schlafen - wie wert-, wie wundervoll! Meinen Körper zu spüren, in meiner Mitte zu sein, zugleich aufgeregt, offen, fasziniert, es kaum erwarten zu können weiterzugehen. Jedes Kreuz am Wegesrand, an einer Kirche mit einem Kreuz, das ich schlug, zu begrüßen. Mich mit wenigen Worten Spanisch mit Leuten zu unterhalten, einfach ich selbst zu sein, glücklich zu sein, andere glücklich machen, Leute anzulächeln ...
Ich schreibe dies - und mein Herz klopft, ich muss lächeln."

Auch sie lächelte ob dieser wunderbaren Beschreibung. „Faszinierend, oder? Herbert war leise zu ihr getreten. Wusstest du, dass dieser Mann bei seinem ersten Jakobsweg schon über 70 war?“ Erstaunt schüttelte Afra den Kopf. Das waren nur zwei Jahre die zwischen ihnen lagen. Herbert quetschte sich neben sie auf die Couch. Gemeinsam blätterten sie durch den Bildband. Was Afra von manchen Heiminsassinnen einen bösen Blick einbrachte.

„Ich bin immer gerne gewandert, seufzte Afra. Das muss wunderbar sein, jeden Morgen durch so eine schöne Gegend zu laufen“. Auch Herbert starrte sehnsüchtig auf die Bilder. „Vielleicht können wir von hier aus einmal einen Ausflug machen, wie wär’s?“ Afras Augen leuchteten. „Ja, das ist eine schöne Idee. Wie wär’s gleich mit morgen? fragte Herbert. „Der Wetterdienst hat gutes Wetter vorhergesagt.“ Ich weiß nicht“. Afra überlegte. Als sie wieder einen bösen Blick von der Frau zwei Tische weiter auffing, erwachte der Trotz in ihr. „Gut, Morgen, abgemacht!“. Entschlossen lächelte sie Herbert an.

 

 

 

Am nächsten Tag stand sie schon gegen 7.00 Uhr auf und kramte ihre alte Berghose hervor. Auch die Wanderstiefel putzte sie, bis sie glänzten. Herbert klopfte an ihre Tür. Gut  ausgerüstet marschierten sie zur Bushaltestelle. Herbert hatte Afra zum Frühstück eingeladen, und so waren sie kurz darauf im Cafe Huber und schlemmten was das Zeug hielt. Zufrieden lehnte Afra sich zurück. „Das war wirklich lecker. Vielen Dank Herbert.“ Afra lächelte den grauhaarigen Mann an. „Seit ich von zu Hause weg bin, hatte ich kein so gutes Frühstück mehr. Wohin wandern wir heute?“

Verschmitzt grinsend stand Herbert auf. „Das ist mein Geheimnis! Er reichte ihr die Hand, komm lass uns gehen“.

Zufrieden und müde kamen die beiden gegen Abend wieder bei ihrer Residenz an. „Lieber Herbert, das war ein wunderschöner Tag, vielen Dank!“. Herbert hatte sie auf einen Teil des Jakobsweges gebracht, der durch Deutschland führte. Er erklärte ihr die Geschichte der Muschel, und des heiligen Jakobus und Afra hatte andächtig zugehört. Irgendwann hatte sie ihm gestanden, dass der heutige Tag ihr Geburtstag war. Herbert hatte es sich nicht nehmen lassen, in einer Buchhandlung den Bildband zu erstehen, den sie beide neulich angesehen hatten.

 

Frau Wacknagel die Leiterin des Heimes kam mit aufgesetzter Gut-Wetter-Miene durch die  Tür. „Ach Frau Sinninger, da sind sie ja. Ihre Familie hat schon dreimal angerufen, betonte sie vorwurfsvoll. Sie sehen ganz schön erschöpft aus, vielleicht legen sie sich erst einmal hin.“ Afra sah die Frau zornig an. „Ich bin nicht erschöpft, sondern verschwitzt, das ist ein Unterschied! Und ich bin auch nicht müde und lege mich hin. Das einzige was ich habe ist Hunger, du bestimmt auch?“ Lächelnd sah sie zu ihrem Begleiter hin. „Ja ich könnte ein ganzes Schwein verschlingen!“, bejahte der nickend.

Nach dem Abendessen ging Afra in ihr Zimmer um in Ruhe den Bildband anzusehen. Später kam Herbert  mit einer Flasche Piccolo, um auf ihren Geburtstag anzustoßen. Zum ersten Mal seit Afra umgezogen war, schlief sie tief und traumlos.

Von nun an unternahmen Herbert und sie regelmäßig Ausflüge ins Umland. Afra fand es dank Herbert nicht mehr ganz so schlimm hier zu sein. Aber sie vermisste ihre Enkel. Als sie wieder einmal im Gedanken versunken  im Garten saß, hörte sie plötzlich die vertraute Stimme von Luka hinter sich.“ Hi Oma, ich such dich schon eine Weile. Da hast du dich versteckt!“. Afra freute sich sehr, ihren Enkel zu sehen und wollte ihn gar nicht mehr gehen lassen. Er war inzwischen 18 geworden, und hatte eine Wohnung in ihrem früheren Dorf gefunden. Sie erzählte ihm von ihren Ausflügen mit Herbert und zeigte ihm den Bildband vom Jakobsweg. Luke versprach, sie nun öfter zu besuchen.

Eines Abends kam Herbert noch recht spät bei ihr vorbei. Er brachte seinen neu erworbenen Laptop mit. Verwundert sah Afra ihm zu, wie er fachgerecht das Programm hochfuhr. „Afra schau dir das mal an! Er drehte den Laptop um. So viele Seiten zum Thema Jakobsweg. Strahlend sah er sie an. Weißt du, ich habe viel nachgedacht in letzter Zeit und bin zu dem Schluss gekommen, dass dies hier, er machte eine allumfassende Handbewegung, nicht alles sein kann. Ich möchte noch einmal etwas erleben. Mein ganzes Leben habe ich geschuftet und mir nie einen Urlaub gegönnt. Und als meine Frau dann gestorben ist, wollte ich nicht alleine Urlaub machen.“

Herbert nahm ihre Hand. „Afra willst du mit mir nach Santiago gehen?“ Mit glänzenden Augen sah er sie an. Verlegen drehte sich Afra zur Seite.“ Na ich weiß nicht Herbert. Das ist doch ganz schön weit. Glaubst du wirklich wir beide schaffen das? Und was werden unsere Familien sagen?“

„Liebste Afra, so lange ich denken kann, habe ich auf meine Familie Rücksicht genommen. Und jetzt bin ich dran. Ich habe morgen einen Termin bei Dr. Becker in der Turmstraße. Dort lasse ich mich durchchecken. Komm doch mit! Wenn der Arzt uns grünes Licht gibt, dann gehen wir!“

Afra lag die ganze Nacht wach. Sie war hin- und hergerissen. Einerseits hatte sie Angst, ihr Körper könnte das nicht schaffen, andererseits dachte sie an die schönen Bilder in ihrem Bildband und stellte es sich herrlich vor, in dieser Gegend zu laufen. Aber was würde Rolf dazu sagen. Wahrscheinlich würde er sie komplett verrückt erklären.

Es verging eine ganze Woche. Dann kam Luke zu Besuch. Er studierte jetzt, wollte später in die Werbebranche. Und er erzählte ihr, dass das Haus jetzt verkauft sei. An wen, das wusste er nicht. Ein tiefer Schmerz ging Afra durch Mark und Bein als sie das erfuhr. Das Haus, für das sie und ihr Mann jahrelang geschuftet hatten für immer verloren!

Nach dem Abendessen klopfte sie bei Herbert. Überrascht öffnete ihr der alte Mann. „Ja Afra, was für eine Freude, du warst ja noch nie hier bei mir! Komm herein, setz dich!“. Freudig holte er zwei Gläser und eine Flasche Rotwein. Er zeigte ihr das Etikett. Schau mal Afra „Riocha“. Der kommt aus einer Gegend auf dem Weg nach Santiago“. „Deswegen bin ich da Herbert, ich würde gerne mitkommen!“. Herbert sah sie mit strahlenden Augen an. „Oh Afra, du weißt gar nicht, wie mich das freut!“. Den ganzen Abend machten sie Pläne, und stöberten im Internet. Herbert hatte auch schon eine Liste mit Dingen, die sie unbedingt besorgen mussten.


 

Auch diese Nacht konnte Afra keinen Schlaf finden. Aber nur, weil sie so aufgeregt war. Zusammen fuhren sie am anderen Tag in die Stadt in ein großes Sportgeschäft. Dort ließen sie sich einkleiden, und besorgten sich Rucksack und Schlafsack.

Der Verkäufer, ein junger Mann betonte immer wieder, wie bewundernswert er es fand, das Menschen in ihrem Alter noch so ein Abendheuer auf sich nahmen. Afra kam sich zwanzig Jahre jünger vor. Schwer bepackt machten sie sich auf den Heimweg und ernteten unterwegs mehr als einen verwunderten Blick.

 

„Um Gottes willen, begrüßte sie Frau Wacknagel, was haben sie denn vor? Herbert nahm den Rucksack ab. „Geheimnis! Frau Wacknagel, das ist ein Geheimnis!“. Schmunzelnd liefen die beiden alten Menschen den Gang zu ihrem Zimmer.

Als Afra am Abend mit ihrem Enkel telefonierte, konnte sie es sich einfach nicht verkneifen. Sie erzählte ihm was sie vorhatte. „Cool! meinte Luke trocken. Mensch Omi, dass hätte ich dir gar nicht zugetraut!“

Die nächsten Tage gingen zu schnell vorbei. Jeder Tag war  ein Erlebnis und Afra und Herbert blühten richtig auf. Die Heimbewohner schlossen schon Wetten darauf ab, ob die beiden durchbrennen wollten, oder heiraten in Las Vegas. Und am Wochenende stand doch tatsächlich Rolf vor Afras Tür.

„Was willst du denn hier?“ entfuhr es ihr, als sie ihn im Aufenthaltsraum sitzen sah. „Guten Tag Mutter, wie ich höre stellst du hier so allerhand Unsinn an. Rolf erhob sich. Sag mal stimmt das, was mir Luke erzählt hat, du willst nach Santiago laufen?“ „Jawohl! Afra sah ihn kampflustig an. Und? Hast du etwas dagegen?“ Rolf stand auf und umarmte sie. „Aber Mutter weißt du wie weit das ist?“ „Aber sicher, es sind genau 774 km von Saint Jean de Port!“  Stolz sah sie ihn an. „Woher... „kopfschüttelnd betrachtete Rolf seine Mutter. „Internet“ sagte Afra, als wäre es das selbstverständlichste. „Mutter, das kann ich nicht zulassen!“ Rolf brach der Schweiß aus und sein Gesicht bekam eine sehr ungesunde Farbe. „Willst du mich einsperren lassen, oder was? Ich werde mit Herbert nach Santiago de Compostela gehen, und vielleicht auch noch bis ans Ende der Welt“. Gerade kam Herbert durch die Tür. „Hier, darf ich dir Herrn  Schutt vorstellen. Er wird mich begleiten!“.

 Rolf setzte noch Himmel und Hölle in Bewegung, um seine Mutter umzustimmen, aber er hatte keine Chance gegen sie. Resigniert verabschiedete er sich. „Mutter, kaufe dir wenigstens  ein Handy. Ruf an wenn irgendetwas ist, hörst du?“

Danach begab sich Herbert zu Frau Wackernagel um mit ihr die Formalitäten für den Heimplatz zu klären.

 

Am nächsten Tag buchten die beiden alten Herrschaften bei der Bahn ihre Reise nach Saint Jean de Port. Nachtzug Paris, dann umsteigen und gegen Abend des nächsten Tages wären sie schon in den Pyrenäen. In einer Woche  sollte es losgehen. Inzwischen hatten auch die anderen Bewohner der Residenz von ihren Plänen erfahren. Jeden Abend waren die beiden nun der Mittelpunkt  und sie mussten tausend Fragen beantworten. Natürlich gab es auch den ein oder anderen der um ein Gebet bat, wenn sie angekommen wären.

Jeden Abend schnürten sie ihren Rucksack von Neuem, und immer wieder fiel ihnen noch etwas ein, das sie mitnehmen wollten.

Am Morgen vor ihrer Abreise führte Herbert Afra noch zum Rhein hinunter. Er erzählte ihr vom Cruz de Ferro, und das sie unbedingt noch einen Stein mitnehmen solle. „In diesen wirst du dann all deine Sorgen packen, gedanklich versteht sich lächelte Herbert verschmitzt, und dann legen wir diese einfach ab dort oben!“ Afra fand diesen Gedanken sehr schön nach langem Suchen sah sie  einen Flußkiesel der wie ein Herz aussah. Sie packte ihn in ihre Tasche.

 

Gegen Abend des nächsten Tages waren die beiden bereit. In ihren Wanderschuhen mit vollem Rucksack verabschiedeten sie sich von Frau Wacknagel und ihren Schäfchen. Luke hatte es sich nicht nehmen lassen, seiner Oma einen Wanderstock aus Eiche zu schenken. Er hatte ihn von einem Freund der Zimmermann war. Herberts Tochter war gekommen, und stand mit saurer Miene an der Eingangstür. „Was für eine Dummheit Vater, stammelte sie immer wieder. Wenn dir nun etwas passiert.?“ Irgendwann wurde es Herbert zu dumm. „Keine Angst Gisela, ich habe mein Testament beim Anwalt hinterlegt. Ihr kommt schon nicht zu kurz!“. Eingeschnappt hielt seine Tochter von nun an den Mund.

Aufatmend ließen sich die beiden kurz nach 22.00 Uhr  endlich in ihren Sitz fallen. Sie sahen sich an und lächelten. Herbert nahm Afras Hände in die seinen. „Du wirst sehen, das wird ein Abenteuer. Lass es uns genießen, liebste Afra, wahrscheinlich das letzte für uns zwei“. Herbert sah sie ernst an. „Ich finde es ganz wunderbar, dass ich das noch einmal erleben darf!“. Afra war ein wenig mulmig zu Mute. „Meinst du wirklich, wir beide schaffen das?“ Herberts blaue Augen leuchteten. „Ich bin ganz sicher!“ antwortete er lächelnd.

Die Fahrt nach Paris war sehr angenehm und Afra konnte trotz aller Aufregung sogar schlafen. Als Mann von Welt hatte Herbert keine Probleme, von einem Bahnhof zum anderen in Paris zu kommen. Er konnte außerdem perfekt französisch, und unterhielt sich sehr gut mit dem Zugschaffner. Afra hatte auf einmal das Gefühl, mit ihm alles schaffen zu können. Am Nachmittag des nächsten Tages kamen die beiden müde aber glücklich in den Pyrenäen an. „Sankt Jean de Port“ war ein wunderhübsches Städtchen mit freundlichen Menschen und vielen Pilgern. Herbert führte Afra zielsicher ins Pilgerbüro, wo er sich gleich mit einem Padre französisch unterhielt. In Kürze hatten sie ihre Pilgerpässe erhalten. Ein Telefonat genügte, und auch die Betten für beide waren bestellt.

Afra sah Herbert bewundernd an. „Wie du das alles machst! Ich bin stolz auf dich!“. Herbert grinste. „Du hast nicht umsonst einen ehemaligen Bankdirektor dabei. Da weiß man schon, wie man Dinge organisiert. Komm lass uns die Herberge anschauen.“

 

Afra und Herbert sollten sich bald in dieser eingeschworenen Gemeinschaft der Pilger wohlfühlen. Bereitwillig überließen diese ihnen beiden immer die unteren Betten. Unterstützten sie wie sie konnten, und nahmen sie ohne prüfende Blicke auf. Nie stellte irgendjemand ihren Plan infrage nach Santiago zu gehen, nein ganz im Gegenteil. Viele bewundernde Blicke trafen sie, wenn sie wieder einmal müde an einer Herberge ankamen. Die ersten Etappen waren schwer. Und sie mussten feststellen, dass die Bergab-Etappen fast noch schlimmer als die Bergauf-Etappen waren. Sie gingen richtig in die Knie.

In Pamplona machten die beiden ihren ersten Ruhetag. Sie gönnten sich ein Hotel. Und sie hatten längst die Grenze überschritten zwei Einzelzimmer zu nehmen. Es war viel praktischer im Doppelzimmer zu wohnen. So konnten sie am Abend noch über ihre Erlebnisse reden und sich gegenseitig helfen, den Rucksack zu packen. In diesen paar Tagen auf dem „Camino“ wie er hier genannt wurde, hatten sie schon einige unnütze Dinge ausgemustert und verschenkt .So war ihr Rucksack nun relativ leicht. Allerdings hatten sie einige Tage gebraucht, um sich an sein Gewicht zu gewöhnen, und Afra hatte jetzt noch ganz rote Striemen auf den Schultern.

Herbert und Afra tat es leid, die ganzen netten Menschen weiterziehen zu lassen, die mit ihnen bis Pamplona gegangen waren. Aber sie waren einsichtig genug zu wissen, dass sie in ihrem Alter öfter einmal eine Pause brauchten.

Afra hatte ihr Handy, mit dem sie ihren Sohn informieren sollte, gleich auf den ersten Etappen irgendwo liegen lassen. Aber sie vermisste es nicht, ganz im Gegenteil. Sie war froh das Ding los zu sein. Hier in Pamplona saßen die beiden in einem Straßencafe und schrieben Postkarten an ihre Lieben und natürlich an Frau Wacknagel und ihre Schäfchen in der Seniorenresidenz.


Manchmal standen die beiden vor Sonnenaufgang auf und liefen in den Tag hinein. Das waren für Afra die schönsten Stunden. Nach Pamplona auf dem Berg der Windmühlen überkam sie ein Glücksgefühl, und sie blieb stehen und umarmte Herbert stürmisch. Verwundert sah er sie an. „Ich wollte dir nur danken! sagte Afra, ich glaube noch nie in meinem Leben habe ich so etwas Wunderbares erlebt. Schau dir diese Natur an, diese Blumen, diese Landschaft, diese Menschen. Und ohne dich, sie sah Herbert liebevoll an, würde ich jetzt in meinem Zimmer zu Hause sitzen und langsam vor mich hin sterben“.

Oft wanderten sie stundenlang vor sich hin und Afra überdachte ihr ganzes bisheriges Leben. Ihre Zeit mit Heinrich, diesem korrekten ernsten Mann, der selten lächelte, aber sie von Herzen geliebt hatte. Sie grübelte warum sie ihn geheiratet hatte und kam zu dem Ergebnis, dass alleine sein guter Beruf als Ingenieur und ihr Ruf im Dorf ausschlaggebend gewesen waren. So richtig verliebt war sie noch nie gewesen in Heinrich.

Auch Herbert hatte sehr oft seine Gedanken bei Erika seiner Frau. Warum hatte er immer so viel gearbeitet, und sich so wenig um sie und seine Tochter gekümmert. Am Anfang war ihm Erika so begehrenswert  erschienen, und später war sie ihm eher lästig gewesen. Sie hatten keine Gemeinsamkeiten. Ihre Wochenenden auf Schönheitsfarmen hatte er für reine Verschwendung gehalten. Aber vielleicht war es ja die Einsamkeit, die sie dahin getrieben hatte. Das musste er sich eingestehen. Er hatte sie nicht gerade gut behandelt! Von Liebe war gar keine Rede mehr gewesen. Selbst als sie gestorben war, hielt sich seine Trauer in Grenzen. Und Gisela seine Tochter,  glich seiner Frau leider aufs Haar. Ein Modepüppchen, das ihn und seine Träume nicht verstand. Jetzt im Nachhinein tat es ihm leid.

Ein kleiner Franzose namens Alfons hatte sich zu ihnen gesellt. Herbert bewunderte den Mut des kleinen Mannes, alles hinzuwerfen und noch einmal anzufangen. Er hatte eine kleine Zimmerei gehabt, eine hübsche Frau und 2 Kinder. Die Arbeit wurde immer mehr, die Ansprüche der Frau immer höher. Er arbeitete Tag und Nacht um Geld heranzuschaffen. Mit dem Ergebnis das seine Frau mit seinem Gesellen durchbrannte, und die Kinder mitnahm. Nach einem Nervenzusammenbruch verkaufte er sein Hab und Gut, und war nun schon seit 6 Monaten auf dem Jakobsweg unterwegs. Von seiner Haustür war er losgelaufen. Wie ein Abbild des heiligen Jakobus sah er aus, mit seinem wilden Haar und dem schwarzen Bart.

 

In Logrono machten die beiden wieder einen Tag Pause. Sie saßen auf der Plaza und sahen den Menschen zu, die den ganzen Tag unterwegs waren. Afra und Herbert waren inzwischen braungebrannt und hatten keine Schwierigkeiten 20 km am Tag zu laufen. An diesen Ruhetagen vermissten sie ihren Rucksack auf dem Rücken, und kamen sich richtig nackt vor ohne ihn.

Andy und Tom zwei Amerikaner kamen vorbei, und setzten sich auf ein Glas zu ihnen. Sie hatten ihr Medizinstudium abgeschlossen und wollten sich bei „Ärzte ohne Grenzen bewerben. Mehr als einmal hatten sie unterwegs Afras Füße verarztet. Andy hatte allerdings hier auf dem Weg eine Frau kennengelernt. „Carmen“, eine Spanierin. Nun war er sich nicht mehr sicher, was seine Zukunft anbelangte. .

Gegenüber sah Afra Marie vorbeilaufen. Sie kam aus Österreich. Hatte gerade ihr Abi gemacht, als sie die Nachricht erhielt, dass ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Auch heute noch, sechs Monate danach, konnte sie nicht darüber sprechen. Zu ihr Afra,  hatte sie Vertrauen gefasst, vielleicht weil sie schon so alt war. Afra hatte sie auch in den Arm genommen in einer Herberge in Los Arcos als sie Albträume hatte, und mitten in der Nacht zu schreien angefangen hatte. .

Marie trug ein grünes Kopftuch und ein grünes Kleid. An den Füssen Badeschlappen. Manchmal zog sie diese auch zum Wandern an. Es machte ihr nichts aus, auf dem Fußboden zu schlafen, oder einen Tag nichts zu essen. Sie trug ihre Trauer in sich wie ein Krebsgeschwür. Afra kam es manchmal vor, als wolle sich dieses Mädchen für etwas bestrafen, für das sie gar nichts konnte. Kontakte knüpfte sie so gut wie keine. Dabei hätte ihr so eine junge Clique wie es einige auf dem Weg gab, bestimmt gut getan. Lächelnd sah  Afra dem Mädchen entgegen. „Komm Marie setz dich hier her, ich lade dich auf ein Eis ein!“ Sie bemerkte den zögernden Blick, der über Andy und Tom ging, bevor sie sich einen Stuhl heranzog.

„Hast du auch Blasen an den Füssen?“ Herbert hatte bemerkt, dass das Mädchen leicht hinkte. Verlegen nickte sie. „Ja, aber nur zwei!.“ Tom hielt ihr die Hand hin. „Tom and Andy, two friends on the road” stellte er sich vor. . Er grinste verlegen. „Marie“, sie reichte den beiden die Hand. Man merkte ihr an, dass sie sich nicht wohlfühlte. Afra betrachtete sie mitleidig. So viel Leid bei einem jungen Mädchen! Sie streichelte ihr über die Schultern. „Glaub mir, die beiden sind nett. Und du kannst bestimmt besser Englisch als wir beiden Alten. Hilf uns ein bisschen!“ Sie merkte, wie sich Marie langsam entspannte. Und am Ende hatten alle einen schönen Nachmittag bei Salat und Rotwein.


„Afra bist du wach?“ Langsam erwachte die alte Frau aus einem tiefen traumlosen Schlaf. Ächzend kam sie unter ihrem Schlafsack vor.“ Herbert? Was ist los?“ „ Ich weiß nicht, ich fühle mich nicht gut.“ Er klang schwach und unsicher. Afra befreite sich aus ihrem Schlafsack. „Kannst du gehen? Komm lass uns nach draußen gehen.“ Der Schlafsaal war erfüllt von Geräuschen und Gerüchen. „Komm hoch!“ Afra fasste Herbert unter, und machte sich langsam auf den Weg in den Aufenthaltsraum. Sie erschrak. Der alte Mann war blass und zitterte. „Herbert, was ist mit dir?“. Sie brachte ihm ein Glas kaltes Wasser. Er  versuchte zu lächeln. „Ich glaube, ich habe mich überschätzt. Aber mit dir zu laufen jeden Tag, das war einfach zu schön. Sei nicht böse“. „Böse?“ Afra schüttelte entrüstet den Kopf. „Du Dummer, ich bin doch einfach froh mit dir hier zu sein. Ohne dich, wer weiß wo ich jetzt wäre. Hör mal, wir suchen uns ein Hotel und bleiben ein paar Tage hier!“.

Einen Moment dachte sie an die netten Bekanntschaften, die sie würden zurücklassen müssen, aber ihre Sorge um Herbert war weit größer.

Die Tage in Logrono waren für ihre beiden Körper eine Wohltat. Afra ging jeden Tag zur Massage und Herbert schlief viel. Am fünften Tag aber wurde er munterer. Beim Abendessen auf der Plaza, als sie einige fremde Pilger vorbeiziehen sahen, und Afra ihnen wehmütig hinterher schaute hörte sie Herbert sagen.“ Morgen Afra, lass uns morgen weiterziehen!“

 

Es war recht heiß in den nächsten Tagen und Herbert und Afra gingen meist schon vor 5 Uhr  los. Beide merkten zwar eine gewisse Müdigkeit in den Knochen, aber noch nie hatten sie sich so lebendig gefühlt. Oft liefen sie stundenlang stumm nebeneinander her, ohne dies unangenehm zu empfinden. Aber sie sprachen in diesen Zeiten auch von ihrem Leben, ihren Gefühlen, ihren Dummheiten und ihren Erfolgen. Jeder Tag war ausgefühlt von neuen Begegnungen, neuen Erfahrungen und die Selbstverständlichkeit einfach loszulaufen um irgendwo anzukommen, war total entspannend.

Und in Astorga erlebten sie eine Überraschung. Marie war wieder da. Sie hatte dort eine längere Pause gemacht. Der Hospitalierowar ausgefallen und Marie   für ihn eingesprungen. Ohne viel Worte, einfach so. Die zwei älteren Herren wollten das Mädchen gar nicht mehr gehen lassen, so sehr hatten sie Marie ins Herz geschlossen. Aber die junge Frau setzte sich durch. Sie mochte die beiden älteren Menschen sehr, und wollte unbedingt mit ihnen weiterziehen. Und so zogen am nächsten Morgen drei Pilger über die lange Pilgerautobahn Richtung Santiago.

Ab hier war es schon recht voll und überall herrschte geschäftiges Treiben auf dem Weg, In den Cafes wurde galizische Musik gespielt und viele der jungen Pilger saßen in Gruppen am Wegesrand und genossen das schöne Wetter.


Für Afra und ihre Weggefährten wurde es noch einmal ganz schön anstrengend, zumal das Wetter vor dem Cruz de Ferro plötzlich schlechter wurde. Marie war den beiden Alten eine große Hilfe. Sie organisierte jeden Tag die Betten und das Essen. Sie kümmerte sich liebevoll um die beiden, so dass viele Pilger der Meinung waren, sie wäre mit ihren Großeltern unterwegs. .

Auf dem Cruz de Ferro herrschte Schneetreiben, und die drei konnten fast gar nichts sehen. Sie mussten in der ziemlich düsteren Herberge eines Brasilianers erst einmal Schutz suchen. Aber sie wurden liebevoll empfangen und versorgt und gut gesättigt machten sie sich auf den Weg  Die nächste Herberge bestand aus einer der typischen Rundhäuser, die hier in der Gegend gebaut wurden. Sie gehörte zu einem Berggasthaus. Am Abend kochte die Hausherrin persönlich und die drei Pilger waren froh und glücklich sich gefunden zu haben.

 

Am Abend saßen sie noch im Aufenthaltsraum und Marie erzählte den beiden ein wenig aus ihrem Leben. Sie war wohlhabend. Ihre Eltern waren sehr vermögend gewesen  und neben einer großen Villa und einem Ferienhaus in Italien besaß das junge Mädchen ein Bankkonto, das ihm ein sorgenfreies Leben ermöglichte.

Doch Marie war immer ein behütetes Mädchen gewesen. Sie hatte Angst vor dem Alleinsein, vor der Verantwortung. Je näher die drei Santiago kamen, umso stiller wurde sie. Ratlos saßen Afra und Herbert manchmal am Tisch. Auch sie beide wussten, ihr Leben würde niemals mehr wie vorher sein! Sie hatten so viel gesehen und erlebt auf ihrem Weg, dass eine Rückkehr in die Seniorenresidenz ihnen unmöglich erschien.

Nach La Faba ging es steil bergab und Marie war schon vorausgegangen, um die Betten zu sichern. Herbert ließ sich schwer atmend auf einem Flecken Gras im Schatten nieder. Inzwischen war es wieder sehr warm geworden. „Afra ich habe mir etwas überlegt“, begann er. Afra sah ihn neugierig an. „Rück raus, Herbert, hier auf dem Weg kommen einem doch die besten Gedanken, oder?“ Lächelnd nickte der Mann. „Nun, was hältst du davon, wenn wir uns eine kleine Wohnung suchen? Verlegen kramte er in seinem Rucksack. Ein Leben ohne dich, kann ich mir nicht mehr vorstellen Afra!. Aber ein Leben in dieser Residenz auch nicht! Was meinst du?“


 

„Du willst in wilder Ehe mit mir leben? Afra drohte mit dem Zeigefinger, aber Herbert!“ Verdattert sah er sie an. Lachend schlug ihm Afra auf die Schulter. „Ich habe doch nur Spaß gemacht. Und weißt du was? Mir ist schon der gleiche Gedanke gekommen“. Zärtlich umarmte sie den alten Mann. „Habe ich dir schon gesagt, dass du das Beste bist, was mir in all meinen alten Jahren untergekommen ist? Wenn mich mein missratener Sohn nicht in diese Residenz gesteckt hätte, wären wir beide nie zusammengekommen. Afra lachte. Ich werde ihn um Vergebung bitten, weil ich ihm so böse war!“.

 

Santiago war für beide ein Höhepunkt, aber zugleich auch ein neuer Anfang in ihrem Leben. Mit Tränen in den Augen standen die zwei alten Menschen eines Morgens an einem regnerischen Tag vor der Kathedrale. Beide hielten Marie umarmt. Alle drei weinten. Aber ihre Gefühle spielten verrückt, zwischen Freude und Trauer. Vor allem Marie schluchzte ununterbrochen und Afra und Herbert sahen sich über ihren Kopf hinweg fragend an. Hinter der Kathedrale gab es ein bequemes Hostal, in dem alle drei unterkamen. Für den Abend verabredeten sie sich in einem Restaurant das aussah wie ein Palast. Sie ließen sich Pizza und Salat schmecken. Afra und Marie machten einen kleinen Stadtbummel, und kauften sich in einer Boutique neue Sachen.

 

In einem kleinen Cafe nahm Afra die Hände des Mädchens. „Marie, mein Liebes, du musst dein Leben wieder in den Griff bekommen! Lass dich nicht hängen. Bitte!. Du kannst immer zu uns kommen. Aber du bist noch so jung, und wir Alten, wären nur eine Plage für dich.“ Anne weinte bitterlich. Sie erzählte von ihrer Angst vor dem Alleine sein, und von ihren Albträumen.

Afra dauerte das arme Mädchen sehr.  „Weißt du was? Sie seufzte. Wie wäre es, wenn wir alle morgen noch für einige Tage nach Finesterra fahren?“. Sie würde es Herbert schonend beibringen müssen. Trotz ihrer Bedenken nahm Herbert ihren Gedanken freudig auf, und gegen acht Uhr morgens saßen alle drei im Bus nach Finisterra. Es war ein wundervoller Tag, und sie genossen die Fahrt nach dem langen Fußmarsch in vollen Zügen. In Finisterra angekommen, waren sie schnell umringt von Menschen, die Zimmer zu vermieten hatten. Herbert verhandelte eine Weile mit einer kleinen runzligen Spanierin und winkte die beiden dann zu sich her. Sie folgten der Frau durch die verwinkelten Gassen, und erhielten zwei sehr schöne Zimmer mit Meerblick.

 

Die Wirtin der Pension erzählte ihnen von einer menschenleeren Bucht die mit Jakobsmuscheln übersät war. Da Afra und Anna unbedingt so eine Muschel haben wollten, machten sie sich auf den Weg dorthin. Herbert blieb und machte ein Nickerchen.

Welch eine Überraschung. In der besagten Bucht trafen die beiden  auf Andy und Tom die beiden Ärzte aus den USA, sowie auf Alfons den kleinen Franzosen. Sie verabredeten sich für den Abend am Leuchtturm. Selbst Marie war diesmal zugänglicher und schien sich aufrichtig zu freuen alle wiederzusehen. Andy erzählte das seine große Liebe leider irgendwann über Nacht auf und davongelaufen war. Am Anfang war er richtig fertig gewesen, aber inzwischen konnte er auch schon wieder darüber lachen.


Der Weg am Abend zum Leuchtturm war aussichtsreich und schön und alle waren guter Laune. Viele Pilger waren hier versammelt und manche verbrannten ihre Socken, oder sonstige Gegenstände, die nicht mehr gebraucht wurden. Der Sonnenuntergang war atemberaubend und lange saßen alle stumm und staunend auf den Felsen den Anblick hier am  Ende der Welt zu genießen.  Später machten sie sich plaudernd auf den Weg ins Restaurant. Marie unterhielt sich sehr gut mit Andy und Afra und Herbert registrierten dies überrascht.


Auch die restlichen Tage gingen wie im Flug vorbei, und Marie blühte auf. Sie hatte ein strahlendes Lächeln und ihre braunen Augen leuchteten

Herbert nahm Andy am Tag der Rückfahrt nach Santiago noch auf die Seite. „Mach mir das Mädchen nicht unglücklich, sonst bekommst du es mit mir zu tun!“, drohte er. Andy erkannte an seinem Blick, dass diese Drohung ernstgemeint war.


Am letzten Abend gingen Afra und Herbert noch einmal zum Leuchtturm um Lebwohl zu sagen. Sie fassten sich an den Händen und sahen dem roten Feuerball zu, wie er langsam im Meer verschwand.  Sie sahen einander an. Und beide wussten -sie würden wiederkommen

 

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0

Mein Camino 2018 von Oviedo nach Lugo

 

 

 

1.     Tag

 

Heute ist der 9.4. und ich starte meinen Camino Primitivo. Mit dem Zug nach Freiburg und mit dem Flughafenbus nach Basel. Mein Flieger startet da schon Sommerflugzeiten sind erst um 13.15 Uhr. Leider hat das Flugzeug aus Madrid schon Verspätung und so sieht es gar nicht gut aus für den Bus, den ich in Madrid nach Oviedo gebucht habe.

 

Ich habe mich im Pilgerforum mit Elisabeth verabredet. Sie möchte auch den Primitivo laufen, scheut sich aber, ihn alleine zu gehen. Um diese Zeit vermuten wir noch nicht so viele Menschen auf dem Weg. Allerdings haben wir auch ausgemacht, wenn es nicht passt geht jeder seiner Wege.

 

In Madrid suche ich den Bus nach T4. Dort soll eigentlich mein Bus abfahren. Ich wage ist gar nicht auf die Uhr zu schauen. Nein, kein Stress. Ist der Bus weg ist es halt Schicksal. A ber ich habe Glück. Ich hechte in den Bus, die Tür geht zu und er fährt. Hätte ich nicht vorgebucht, keine Chance. Der nächste Bus wäre wohl erst morgen gefahren.

 

Elisabeth hat in Oviedo ein Hotel für uns gebucht. Ich komme erst kurz vor 24.00 Uhr an und habe, obwohl es nicht weit ist zum Hotel, keine Lust mehr zu laufen. Für fünf Euro lasse ich ein Taxi fahren.

 

Elisabeth wartet schon und wir schlafen bald, morgen ist ein anstrengender Tag.

 

1.       2. Tag  Oviedo nach Grado 24 km

 

Wir frühstücken im Hotel Tostadas und Cafe con leche und dann geht es hinaus, in den trüben Tag. Ja leider ist das Wetter nicht so toll. Es nieselt und ist nicht so warm. Wir irren ein bisschen um die Kathedrale herum bis wir erste Pfeile finden. Sie führen uns hoch über die Stadt. Elisabeth zweifelt ein bisschen was die Richtung angeht. Und tatsächlich, als wir hoch über der Stadt sind, erklärt uns ein Mann, dass dies der Weg zum Camino del Northe ist. Na super. Haben wir schon mal ein paar km extra hingelegt. Wir legen uns auf eine Richtung fest und versuchen, ohne wieder in die Stadt hinunter zu laufen, zum anderen Weg zu kommen. Und tatsächlich, irgendwann haben wir es geschafft. Die Sonne scheint und es geht ziemliche Steigungen hinaus. Doch es ist schön hier. Tolle Aussichten. Leider sind auf diesem Weg, nicht so viele Bars vorhanden. So sind wir froh als wir gegen Nachmittag ein hübsches Lokal sehen. Wir können sogar draußen sitzen. Wir stärken uns mit Radler, Kaffee und Bocadillos. Da wird es plötzlich rabennschwarz. Wir verziehen uns nach drinnen, bevor es richtig loslegt. Es hagelt und stürmt.

    So schnell wie es gekommen ist, ist das Unwetter verschwunden. Gegen 16.00 Uhr kommen wir an die öffentliche Herberge von Grado.  Ist warm und gemütlich. Der Herbergsvater ist ein  sehr leutseeliger Mann. So ein Alt- 68er. Spielt coole Musik in seiner Hütte.


3.       Tag von Grado nach Bodenaya

 

Heute morgen bin ich gegen 7.30 Uhr fertig. Leider ist meine Wandergefährtin noch nicht fertig. Sie liegt noch im Bett. Vielleicht klingt das jetzt egoistisch, aber ich will nicht immer warten. Immer schauen, was der andere macht. Dies ist die einzige Zeit die ich nur für mich habe. Zu Hause muss ich immer auf andere Rücksicht nehmen. So nehme ich mir nun die Freiheit zu gehen. Hier auf dem Weg sind ja doch einige andere. So braucht meine Bekannte diesen Weg nicht alleine gehen. Aber ich liebe es, alleine zu sein.

 

Auch heute ist das Wetter nicht berauschend. Schon wieder muss die Regenjacke ausgepackt werden. Und diese Schlammwege, ja Kuhwege. Man  watet echt in der Kuhscheiße. Ich hasse das. Man stelle sich vor: Vor dir ein Weg ca. 150 m lang, 1,5 m breit und voll mit Schlamm kniehoch. Du stehst davor und überlegst wie du ohne nasse Schuhe und dreckige Hosen, da durchkommst. Ich sag euch – geht nicht. Man müsste fliegen. So versuchst du halt dein Bestes.

 

Du suchst den Rand, ritzt dich am Stacheldraht, an Brombeerbüschen. Tauchst bis zum Knie im Schlamm, fluchst was das Zeug hält. Und du bist erleichtert, hast du es geschafft. Und durch den Wald siehst du eine geteerte Straße, die in die gleiche Richtung geht. Ich glaube, diese Schlammwege sind nur für Kühe und Pilger.

 

Ja und kaum hast du Zeit dich zu freuen, fängt der nächste Schlammweg an.

 

Ich treffe unterwegs Monika, die zu Hause gerade mal 40 km von mir entfernt wohnt. Sie möchte heute bis Bodenaya gehen, eine sehr spirituelle Herberge, geführt von David und seiner Frau. Außerdem sind hier unterwegs Marius aus der Slowakei, Harm aus Norddeutschland, Greg und David, ein Künstler aus den USA, Claudia aus Italien, und Janis ein Grieche. Dann noch die beiden Spanierinnen Idurme, die selbst eine Herberge auf dem Northe betreibt und ihre Freundin Irene mit einem jungen Mann.

 

Meiner Begleitung schreibe ich ein Whatsup. Ich erkläre, dass unser Rhythmus nicht der gleiche ist und ich es deswegen vorziehe alleine zu gehen.

 

Laufe also mit Monika bis Bodenaya. David und seine Frau reichen gleich mal warmen Tee zur Begrüßung und erklären, wir können uns alles nehmen hier in der Küche. Nach der Dusche fühlen wir uns gleich wieder besser. So langsam füllt sich die Herberge. Alle bekannten Gesichter kommen hier her. Wir sind hungrig.

 

 

 

Doch gegen 21.00 Uhr als wir essen wollen, kommen noch Nachzügler zur Herberge. Es wird 22. Uhr bevor wir essen. Unsere schmutzige Wäsche dürfen wir David und seiner Frau geben. Am nächsten Morgen liegt diese fein gefaltet und frisch gewaschen auf dem Tisch. Echt ein super Service. Dann gibt es für jeden noch ein Glas Cidre. Natürlich von oben ins Glas gegossen. Mit Gesang. Eine echt urige Herberge.

 

Nur mir persönlich ist es doch ein bisschen zu spirituell. Mit dieser Fragerei am Tisch, habe ich es nicht so. Spät wird es bis wir ins Bett kommen.